Der Forschung wird manchmal nachgesagt, sie sei zu theoretisch und in der Praxis könne man das Ganze sowieso nicht anwenden. Schauen wir, wie es um das Buch „Wertstromdesign“ von Klaus Erlach steht.
1. Die Grundlagen
Das Buch beginnt ganz klassisch mit einer Einführung von Begriffen(Fabrik, Standort, Werk) und Definitionen:
- Welche Ziele hat eine Produktion und wie lassen sich diese besser erreichen?
- Dilemmata in der Ablaufplanung: Termintreue, Auslastung, Durchlaufzeit
- Logistik: Lieferfähigkeit, Materialkosten, Bestand
Soweit so gut – das ist kurz und knapp gehalten, dann geht es um den Wertstrom. Gleich vorneweg: Ein Wertstrom ist mehr als ein Hallenplan mit anderen Symbolen. Denn er enthält sowohl den Fluss des Materials als auch der Informationen.
2. Wertstromanalyse – Das Sehen lernen
„Das Lieblingsfeld deutscher Ingenieurskunst ist die detaillierte Optimierung der einzelnen Produktionsprozesse […]. [Doch] so können in einzelnen Produktionsprozessen erreichte Verbesserungen komplett verpuffen, wenn sie nicht mit Bezug auf den gesamten Produktionsablauf geplant und umgesetzt werden.“ [S.31]
Jedes Detail in der Fabrik wurde schon optimiert, 5S an jedem Arbeitsplatz, die Zeit an jeder einzelnen Station ist super ausgelegt, doch das Große und Ganze ist kompliziert und voller Stau.
Bei der Wertstromanalyse schaut man sich alles an und wie es zusammenhängt. Nicht möglichst vollständig, sondern möglichst umfassend sollte der Wertstrom sein. Hier spielt die Werstromanalyse ihre vollen Punkte aus. Sie ist einfach, schnell, zeigt Komplexität und kommuniziert visuell.
Dank vieler Beispiele, vorgezeichneten Symbolen und Tipps zur Anwendung schafft man die Aufnahme mit Hilfe des Buches ganz leicht. Denken Sie daran: Den Wertstrom zeichnen Sie am besten vor Ort mit Hand, später können Sie ihn dann immer noch digitalisieren.
3. Vor Ort ist nicht alles – Analyse der Daten
Die Realität ist vor Ort und deshalb wird dort auch der Wertstrom aufgenommen – das ist wichtig.
Doch die tausenden von Datensätzen und Informationen aus dem ERP System haben auch ihre Berechtigung, das sieht der Autor ähnlich und geht direkt darauf ein.
Die Analyse der Daten gliedert sich in vier Bereiche:
- Produktfamilienbildung
- Kundenbedarfsanalyse
- Wertstromaufnahme
- Verbesserungspotentiale
Eine Stärke des Buches: anstatt einfach zu sagen „kombinieren Sie die Produkte zu Familien“ oder mit komplizierten Formeln um sich zu werfen wird gezeigt, wie man das am besten macht. Anhand von Beispielen und Listen.
Gleiches beim Kundenbedarf: Dass der Kundentakt der verfügbare Betriebszeit pro Jahr geteilt durch den Kundenbedarf pro Jahr entspricht, ist soweit klar. Doch die Kundennachfrage schwankt zum Teil erheblich und auch das muss eine Produktion abbilden.
Schlank hilft nichts, wenn es zu Weihnachten zu wenig Stollen gibt. Auch hier wird gezeigt, wie man damit im Sinne von Lean geschickt umgehen kann. Weiter wird noch auf den Produktionsprozess, Rüstzeiten und die Gestaltung der Logistik eingegangen.
Wertströme gibt es nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Administration. Wie man diese mithilfe der Wertstrom Symbolik korrekt abbildet, wird ab Seite 89 genauer erläutert.
4. Erste Verbesserungen – Warum dauert das so lange
Das Verhältnis zwischen der Bearbeitungs- plus Prozesszeit zur Durchlaufzeit zeigt, wie viel Potential noch in Ihrer Fertigung steckt. Oft sind die ersten Werte im Minuten- oder Stundenbereich, der zweite eher im Bereich der Tage und Wochen.
Nach dem ersten „Management by Walking Around“ [S. 101] sehen Sie sicherlich schon Verbesserungsmöglichkeiten. Der gezeichnete Wertstrom mit den eingetragenen Daten hilft dabei, die größten Engpässe zu erkennen und diese anzugehen.
5. Das Wertstromdesign – Wo soll man anfangen?
Nach gut 100 Seiten wird in Kapitel 3 das Wertstromdesign, sprich die Neugestaltung von Wertströmen, angesprochen.
Der Autor widmet der Analyse und Verbesserung viel Platz, dies zeigt deutlich, dass Verbesserung des Vorhandenen unerlässlich ist. Die meiste Zeit wird man sich in einer Fabrik schließlich mit der Umgestaltung und Anpassung eines vorhandenen Wertstroms beschäftigen, nicht mit der Neugestaltung.
Beim Wertstromdesign gibt es anfangs nichts zu verbessern. Es gibt ja noch keinen Wertstrom, dieser muss erst erdacht werden.
Das Grundziel einer Produktion ist die Vermeidung der 7 Verschwendungen, der Autor fügt noch eine achte Verschwendung, die durch schlechte Geschäftsprozesse und IT-Werkzeuge [S.118, 124] hinzu.
Doch wo soll man anfangen, die Verschwendung zu vermeiden, wenn diese noch gar nicht sichtbar ist? Eine Neugestaltung ist wesentlich schwierig, als etwas Bestehendes zu ändern. Hier nimmt das Buch den Praktiker durch Richtlinien und Vorschläge an die Hand. Das Design erfolgt in fünf Schritten:
- Produktionsstrukturierung
- Kapazitätsdimensionierung
- Produktionssteuerung
- Produktionsplanung
- Verbesserungsmaßnahmen
Auf alle Details kann ich hier leider nicht eingehen. Jeder einzelne Punkt wird jedoch erneut mit zahlreichen Beispielen, Tipps und Grafiken erläutert.
6. Mit zehn Gestaltungsrichtlinien zum Ziel
Das Wertstromdesign ist die schwierigste Aufgabe und wird, wie erwähnt, ausführlich dargestellt. Durch die vielen möglichen Entscheidungen, welche Produkte zu welcher Familie gehören, auf welcher Maschine gefertigt werden soll etc., kann man vor lauter Tabellen und Fragen leicht den Kunden aus den Augen verlieren.
Hier versucht das Buch immer wieder Struktur zu geben. Sei es durch die 5 Schritte des Designs oder die zehn Gestaltungsrichtlinien.
Die fünf Schritte durchläuft man nacheinander, die Richtlinien sollten bei jeder Entscheidung berücksichtigt werden.
„Gestaltungsrichtlinie 1: Ausrichtung am Kundentakt“ [Erlach, S. 143]
Die Richtlinien scheinen recht abstrakt, doch sie sind eine gute Brücke um sich an die Details im Buch zu erinnern und nichts zu vergessen.
7. Die Realität – Nichts ist ideal
Das ist dem Autor sehr wohl bekannt. Rechnerisch brauche man für die Linie 2,1 Maschinen, in der Theorie sind das gerundet drei. Bei Investitionen im sechsstelligen Bereich versucht man natürlich den dritten Kauf zu vermeiden. Auch hier werden Praxistipps gegeben, wie man dies in Einklang mit der Lean Philosophie lösen kann. So könnte die Maschine in der Pause weiterlaufen oder die Stillstandszeit durch andere Maßnahmen reduziert werden.
Klingt hier banal, doch das macht das Buch aus: Die umfassende Betrachtung auch von solchen „Banalitäten“ im sechsstelligen Bereich.
Losfertigung lässt sich nicht immer vermeiden und kann sogar sinnvoll sein kann. Ja, das Material soll soweit wie möglich fließen. Doch wenn es nicht machbar ist, muss eben eine andere Lösung gefunden werden – auch dazu gibt es Tipps.
8. Rundumschlag zu allen Lean Themen
Sie wollen etwas wissen über:
- verschiedene Automatisierungsgrade von Manueller Operation über Teilautomatische Fließfertigung bis zur automatisierten Logistik
- die Gestaltung einer Montagezelle und die Arbeitsräume der Mitarbeiter in der Zelle
- die Koppelung von Prozessen nach dem FIFO Prinzip
- Kanban Systeme und die Formeln zur Auslegung der Kanban-Regelkreise
- die Glättung des Produktionsvolumens – auch „Heijunka“ genannt
Das Buch liefert für den praktischen Einsatz die richtige Menge an Informationen. Vor allem wird hier nicht nur der Idealzustand beschrieben, sondern auf die spannenden Ausnahmefälle eingegangen: Eine Heijunka Box ist simpel, doch wie lassen sich dort auch Exoten außerhalb der Reihe unterbringen?
9. Ein neuer Job, der Wertstrommanager
Die Errichtung eines neuen Wertstroms ist eine große Aufgabe. Es müssen hunderte von Entscheidungen getroffen werden. Angefangen bei der Gestaltung der Produktfamilien über die Festlegung des Schrittmacherprozesses bis hin zur Auswahl und Bestimmung der Kanban Kreise.
Die Projektleiter haben nach Abschluss eines solchen Projekts unglaubliche Erfahrung und zwar nicht theoretisch, sondern praktisch, ja sogar firmenspezifische. Dieses Wissen sollte genutzt werden, denn sobald ein Wertstrom errichtet ist, ist er auch schon veraltet. Neue Kundenanforderungen, Technologien und kontinuierliche Verbesserung machen es nötig, dass der Wertstrom als Ganzes immer wieder angepasst wird.
Der Autor schlägt die Schaffung eines neuen Jobs, des abteilungsübergreifenden Wertstrommanagers vor. Dieser wäre innerhalb der skizzierten Matrixorganisation nicht weisungsberechtigt; er würde jedoch für das Wohl des Wertstroms arbeiten– quasi gegen die Einzeloptimierung.
Der Projektleiter könnte als eine Art interner Berater fungieren oder diese Rolle neben der Steuerung der operativen Wertstromplanung, z.B. der Erzeugung und Freigabe von Fertigungsaufträge, erfüllen.
10. Die schlanke Fabrik
Das vierte Kapitel[S. 281 ff] geht noch eine Stufe höher und betrachtet die Produktion aus der Luft. Es beschäftigt sich mit der Fabrikplanung und beschreibt, wie sich diese in Anlehnung an die Honorarordnung der Architekten in Phasen gliedern lässt.
Auch hier werden wieder Planungsgrundsätze aufgezeigt. Diese sind als Leitplanken zu verstehen, da man sonst erneut vor lauter Möglichkeiten gar nicht weiß, wo man beginnen soll. Dieses Kapitel hilft, wenn man eine neue Halle bauen möchte oder die Produktion in ein gegebenes Layout integrieren muss/will.
11. Produktionssysteme – Gibt es da nicht auch etwas von Audi?
Ohne Produktionssystem – und vor allem einem wohlklingenden Namen dafür – geht es heutzutage bei keinem Autohersteller mehr, egal ob MPS bei Mercedes oder APS bei Audi. Vorgestellt wird im Buch ein grundsätzlicher Aufbau eines solchen Produktionssystems. Der Autor sagt selbst, dass es noch an einer wissenschaftlich fundierten Grundstruktur für ein schlüssiges System fehlt, dies sei noch zu untersuchen.
Für mich wäre ein Buch zum Thema „Produktionssystemdesign“ eine ideale Ergänzung zum vorhandenen Werk.
12. Der Bonus – Die Praxis
Das ganze Buch durchzieht ein Fallbeispiel. Jedes Thema wird an konkreten Zahlen einer Fabrik durchgespielt. Das macht es anschaulich und viele Detailfragen werden so geschickt gelöst.
Überzeugt hat mich das Buch auch mit den vier vorgestellten Praxisbeispielen:
- Transparenz durch Fließfertigung bei beheizbaren Unterbetten
- Losbildung in der Variantenfertigung verschiedener Federn
- kurze Lieferzeiten in der Einzelfertigung von Glas
- Flussorientierung durch Technologie bei der Herstellung von Schleifmitteln
Beeindruckend ist z.B. die Reduzierung der Durchlaufzeit bei der Fertigung der Unterbetten um mindestens 80 %. Zusätzlich werden durch die gewonnene Transparenz Fehler besser sichtbar und die Planung wird einfacher[S. 308].
Ausblick
Schön wäre am Ende des Buches noch eine visuelle Aufbereitung der einzelnen Phasen sowie der Gestaltungsrichtlinien, um einen schnellen Überblick zu bekommen.
Ich persönlich würde mich noch über eine kurze Darstellung anderer Methoden der Produktionsgestaltung und -optimierung(nicht wertstromorientiert) freuen. Das Wertstromdesign ist eine schlüssig und nachgewiesen erfolgreiche Methode. Die Ergänzung eventueller anderer Methoden wäre allein der Vollständigkeit halber.
Zum Autor des Buches
Dr. phil. Klaus Erlach ist Mitarbeiter am Fraunhofer IPA in Stuttgart und Mitglied im VDI-Fachausschuss zur Richtlinie 5200: Fabrikplanung.
Der technisch/philosophische Hintergrund des Autors macht sich im Buch durch einen ungewöhnlich lockeren Stil bemerkbar. Für jemanden, der sich schon einmal mit dem Thema befasst hat, liest es sich flüssig und relativ leicht.
Zu kaufen gibt es das Buch z.B. bei Amazon(Affiliate Link). Eine Leseprobe(pdf) finden Sie auf der Webseite zum Buch.
Für alle mit Springer-Link Zugang gibt es das Buch auch als Online Ressource zum Download.
Zur Frage am Anfang: Ja es geht sehr wohl, Forschung und Praxis zu verbinden. Wenn beide zusammenarbeiten, wird das Ergebnis richtig gut.
Fazit
Rundumschlag zum Thema Wertstrom und Wertstromdesign mit vielen Informationen zu den einzelnen Aspekten der Planung und den Lean Methoden. Abgerundet mit einem Fallbeispiel und konkreten Praxisprojekten. Ja, es ist eher teuer. Doch es lohnt sich für alle die es genau wissen wollen.
Haben Sie einen weiteren Buchtipp zum Thema Wertstromdesign?
Erlach, Klaus (2010): Wertstromdesign. Der Weg zur schlanken Fabrik. Springer-Verlag Berlin Heidelberg (VDI-Buch). ISBN: 978-3-540-89866-5
Quellen: Bildquelle, Alle Seitenangaben im Beitrag beziehen sich auf das Buch.